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Kassenknatsch am Schreibtisch: Wenn Diagnosen zum Abrechnungsrisiko werden

Die Diagnose ist gestellt, die Behandlung erfolgt – und trotzdem endet der Fall nicht im Genesungserfolg, sondern im Schriftverkehr mit der Krankenkasse. Immer häufiger sehen sich Ärztinnen und Ärzte mit Abrechnungsrückfragen, Kürzungen oder gar Rückforderungen konfrontiert. Die Ursache liegt nicht selten in der scheinbar banalen Schnittstelle zwischen medizinischer Versorgung und formaljuristischer Abrechnung. Was als notwendige Dokumentation begonnen hat, wird zum Konfliktfeld, in dem medizinische Einschätzungen gegen Abrechnungsregeln prallen.

Der juristische Korrekturstift im Gesundheitswesen

Ob Hausarztpraxis, Facharztzentrum oder Klinik: Die medizinische Versorgung in Deutschland ist eng mit der Dokumentationspflicht verknüpft. Was nicht dokumentiert ist, gilt als nicht erfolgt. Und was nicht korrekt codiert ist, kann schnell als nicht erstattungsfähig gelten. Dabei ist das Regelwerk komplex und für viele Praktizierende eine administrative Herausforderung:

  • Diagnose-Codierungen (ICD-10): Jeder Krankheitsfall muss exakt kodiert werden, oft mit mehreren Unterziffern.
  • Leistungserfassung (EBM & GOÄ): Die Einordnung der Leistung entscheidet darüber, ob und in welcher Höhe sie honoriert wird.
  • Kassenindividuelle Prüfungen: Besonders bei chronischen oder psychischen Erkrankungen prüfen viele Kassen, ob die erbrachten Leistungen „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ waren.

Diese drei Ebenen reichen aus, um Unsicherheit in den Praxisalltag zu bringen. Die Folge: Ärztinnen und Ärzte geraten zunehmend in die Defensive.


Wenn Vertrauen in Verdacht kippt: die Logik der Kassen

Krankenkassen stehen unter wirtschaftlichem Druck. Die gesetzlichen Vorschriften zur Beitragssatzstabilität verlangen Einsparungen, wo immer möglich. Prüfverfahren, insbesondere durch den Medizinischen Dienst (MD), dienen offiziell der Qualitätssicherung – in der Praxis wirken sie oft wie ein Instrument zur Kostenkontrolle. Dabei wird nicht nur geprüft, ob die Abrechnung korrekt ist, sondern zunehmend auch, ob die Diagnose selbst plausibel erscheint.

Ein typisches Beispiel: Die Diagnose einer „mittelschweren Depression“ (ICD F32.1) kann therapeutisch eine Psychotherapie oder medikamentöse Behandlung rechtfertigen. Wird jedoch aus Sicht der Kasse keine ausreichende Dokumentation für die Schwere der Erkrankung erbracht, kann die gesamte Abrechnung gestrichen werden – inklusive Folgebehandlungen.

Die Folgen für den Praxisalltag

Die Konfrontation mit der Krankenkasse hat Konsequenzen, die weit über die Einzelabrechnung hinausgehen:

  • Erhöhter Dokumentationsaufwand: Immer mehr Zeit muss für die Abrechnungsfähigkeit statt für Patientenkontakt aufgebracht werden.
  • Defensive Diagnostik: Um Konflikte zu vermeiden, dokumentieren viele Ärzte vorsichtiger oder verzichten auf grenzwertige, schwer belegbare Diagnosen.
  • Psychischer Druck: Die Sorge vor Regressforderungen oder Rückzahlungen belastet vor allem kleinere Praxen.

Besonders betroffen sind Fachbereiche wie Psychiatrie, Schmerzmedizin oder auch Hausärztliche Versorgung, in denen Symptome nicht immer klar objektivierbar sind.

Zahnärztliche Leistungen im Fokus

Auch in der zahnärztlichen Abrechnung zeigt sich das Spannungsfeld zwischen medizinischer Notwendigkeit und kassenrechtlicher Bewertung besonders deutlich. Was für die Zahngesundheit dringend erforderlich ist, wird nicht automatisch als kassenfähige Leistung anerkannt. Streitpunkte entstehen vor allem bei Parodontitisbehandlungen, Kronenversorgung oder prophylaktischen Maßnahmen – je nachdem, wie streng die Richtlinien ausgelegt werden.

Quellenlage: zwischen Wissenschaft und Wirtschaft

Mehrere Studien und Expertenberichte stützen die wachsende Kritik am gegenwärtigen System:

  • KV-Berichte und Gutachten zeigen eine Zunahme von Abrechnungsprüfungen um rund 18 % in den letzten fünf Jahren.
  • Der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen kritisiert in seinem letzten Gutachten, dass „die Misstrauensstruktur zwischen Leistungserbringern und Kostenträgern den Fokus von der Versorgung auf die Abwehr verschiebt.“
  • Interviews mit Praxisinhaber:innen verdeutlichen, wie sehr die Angst vor Regressen das medizinische Handeln beeinflusst.

Diese Entwicklungen zeigen eine problematische Verschiebung: Der Fokus liegt zunehmend auf Form und Nachweisbarkeit statt auf dem Patientenwohl.

Neue Wege statt alter Kreisläufe

Wie kann man diesen Kreislauf aus Misstrauen, Kontrolle und Gegenkontrolle durchbrechen? Verschiedene Lösungsansätze werden aktuell diskutiert:

  • Digitalisierung & KI: Intelligente Abrechnungssoftware könnte helfen, Fehlerquellen zu minimieren und korrekte Dokumentation zu erleichtern.
  • Vertrauensmodelle: Pilotprojekte wie „Vertrauensarztmodelle“ setzen auf stichprobenartige statt systematischer Prüfung.
  • Rechtssicherheit durch Fortbildung: Durch gezielte Schulungen zu Abrechnungsfragen könnten Praxen besser vorbereitet sein.

Diese Ansätze erfordern jedoch politischen Willen, klare Richtlinien und eine Abkehr vom Generalverdacht gegenüber Behandelnden.

Diagnose auf dem Prüfstand: Wem nützt Kontrolle wirklich?

Wenn jede Diagnose potenziell ein wirtschaftliches Risiko für eine Praxis darstellt, leidet letztlich die Versorgungsqualität. Ärztinnen und Ärzte stehen vor der paradoxen Situation, einerseits umfassend zu dokumentieren, andererseits aber jedes Wort auf seine Abrechnungsimplikationen zu prüfen. Was als Qualitätskontrolle begann, droht zur medizinisch-ethischen Belastungsprobe zu werden.

Man darf fragen: Wer profitiert am Ende wirklich von dieser Dauerüberprüfung? Und welche Versorgung bleibt auf der Strecke, wenn das Abrechnungsrisiko das medizinische Handeln bestimmt?

Der Diskurs ist längst überfällig – nicht nur in Ärzteverbänden, sondern auch in der öffentlichen Debatte. Denn es geht um mehr als Zahlen. Es geht um Vertrauen, Verantwortung und die Frage, wie man ein Gesundheitssystem gestaltet, das Menschlichkeit nicht im Paragraphendschungel verliert.