Berlin (dts) – In der SPD ist eine Debatte über das sogenannte „Manifest“ mehrerer Spitzenpolitiker für einen neuen Kurs in der Sicherheitspolitik entbrannt.
SPD-Vizefraktionschefin Siemtje Möller wertet das „Manifest“ als Ausweis für eine „lebendige Debattenkultur“ in der SPD. Inhaltlich widerspricht die Außen- und Verteidigungspolitikerin dem Papier jedoch klar: „Es liegt allein an Russland als Aggressor, das Sterben in der Ukraine zu beenden“, sagte Möller den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Donnerstagsausgaben).
„Solange Moskau seine aggressive, imperialistische Politik fortsetzt, kann eine neue europäische Sicherheitsordnung nur vor Russland entstehen“, fügte Möller hinzu. Die Verfasser des „Manifests“ wollen wieder ins Gespräch mit Russland kommen, „auch über eine von allen getragene und von allen respektierte Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa“.
Die Beschlusslage der SPD sei eindeutig, sagte Möller. „Stabiler Frieden braucht Diplomatie, aber eben auch Abschreckung als Teil unserer Verteidigungsfähigkeit.“
Der ehemalige SPD-Außenpolitiker Michael Roth kritisierte das von SPD-Politikern und -Mitgliedern unterschriebene Manifest für mehr Diplomatie und gegen die Aufrüstungspläne der Bundesregierung unterdessen scharf. „Das sogenannte Manifest ist kein Debattenbeitrag, das ist Geschichtsklitterung. Die Autoren bedienen die Erzählung, dass Russland nicht der alleinige Aggressor in diesem Krieg sei und der politische Westen die Hand zum Dialog mit Putin nicht ausreichend ausgestreckt habe“, sagte Roth dem Sender ntv und erinnerte an die Bemühungen der USA und der Bundesregierung um Waffenstillstandsverhandlungen in den vergangenen Wochen. „Es macht mich fassungslos, dass das Manifest all diese Bemühungen und auch die diplomatischen Anstrengungen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik komplett ausblendet.“
Roth zeigte insbesondere für die Unterstützung des sogenannten Manifests durch Ex-SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich keinerlei Verständnis. „Mich verwundert, dass der ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende einer von der eigenen Partei getragenen Regierung und dem eigenen Verteidigungsminister – dem beliebtesten Politiker des Landes – derartig ein Bein zu stellen versucht“, sagte Roth. „Derselbe Fraktionsvorsitzende übrigens, der mir immer wieder vorgeworfen hatte, die Solidarität der Partei mit mir massiv überzustrapazieren. Dass einer der vor Kurzem noch mächtigsten Politiker Deutschlands diesen Beitrag als bloße Meinungsfreiheit deklariert, finde ich zudem verantwortungslos.“ Roth war zur vergangenen Bundestagswahl nicht mehr angetreten, auch weil er sich mit Teilen der SPD im Streit um die Unterstützung der Ukraine überworfen hatte.
Roth attestierte den Autoren des Manifests eine „selbstgefällige und sehr arrogante Abwendung von der Nato-Beistandsverpflichtung“. Dennoch müsse die SPD-Parteiführung die Debatte führen. „Wir können solche Positionen wie in dem Manifest nicht tot- oder verschweigen. Wir müssen ihnen mit Argumenten begegnen“, sagte Roth. „Deswegen hoffe ich, dass das Willy-Brandt-Haus dieses Rumoren aufgreift, statt die Diskussion herunterzukochen.“ In einer Partei, in der die Mehrheit der Mitglieder deutlich über 60 Jahre alt sei, stoße solch ein Manifest überwiegend älterer Politiker auf große Resonanz.
Die Jusos unterstützen das umstrittene Manifest, in dem prominente Sozialdemokraten „riesige Aufrüstungsprogramme“ kritisieren und direkte Gespräche mit Russland fordern. „Hätten wir 2024 tatsächlich 3,5 Prozent des BIP ausschließlich für traditionelle Verteidigung aufgewendet, wären das über 150 Milliarden Euro gewesen. Das sind von der Realität weitestgehend entkoppelte Mondzahlen“, sagte Juso-Chef Philipp Türmer dem „Stern“.
„Es ist gut, dass wir jetzt diese Debatten führen, denn sie entfalten neben der inhaltlichen Ebene auch eine psychologische Wirkung.“ Etwa, indem sie das sicherheitspolitische Zusammenrücken mit internationalen Partnern begünstigten. „Das ist wichtig angesichts der russischen Bedrohungslage.“ Aber dann sollte man auch stärker über die konkreten Punkte der Zusammenarbeit sprechen und nicht allein um BIP-Zahlen streiten.
Der frühere SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, einer der Unterzeichner des umstrittenen Abrüstungs-Manifests, verteidigte das Papier. „Im Kern brauchen wir eine Kombination aus Verteidigungsfähigkeit und Anreizen zur Konflikteindämmung und für Koexistenz“, sagte Rolf Mützenich dem „Stern“. Der Sozialdemokrat gestand ein, dass die in dem Papier enthaltenen Forderungen Irritationen auslösen können. „Auch unsere Überlegungen können nicht alle Fragen beantworten und dennoch suchen wir nach Auswegen in gefährlichen Zeiten, zumal die hohen Investitionen in Militär und Rüstung die finanziellen Mittel für Innovationen und Reformen im Innern beschränken.“
Auch der SPD-Außenpolitiker Ralf Stegner verteidigte das von ihm mitverfasste Manifest gegen Kritik. „Aufrüstung kann nicht die einzige Lösung sein“, sagte Stegner den Sendern RTL und ntv. Man müsse auch mit Regierungen sprechen, die einem überhaupt nicht gefallen, damit der Krieg aufhöre und nicht jeden Tag Menschen sterben. „Und dass wir Milliarden für Rüstung ausgeben und die gleichen Milliarden geben wir nachher aus, um die Ukraine, um Gaza und Aleppo wieder aufzubauen. Dass das nicht vernünftig ist, das weiß jeder und das kann man vielleicht nicht nur den Militärstrategen überlassen, darüber zu reden“, so Stegner.
Es gehe nicht darum, die Hände zu Russland auszustrecken. „Dass Putin ein Kriegsverbrecher ist, bestreitet niemand. Sondern es geht darum, was ist eigentlich die Alternative, wenn man nicht mehr redet.“ Auch in vergangenen Zeiten habe es mit nicht-demokratischen Regierungen Konfliktbewältigungen, Abrüstungs- und Rüstungskontrollabkommen gegeben, um dafür zu sorgen, dass wieder Frieden herrsche in der Welt. „Das wünschen sich ganz viele Menschen, wir auch. Daran ist nichts problematisch, sondern ein sinnvoller Beitrag zur Programmdebatte in der SPD.“
SPD-Vorstandsmitglied Sebastian Roloff begrüßte die Diskussion. „Die SPD muss eine Debattenpartei sein und insbesondere bei den Grundsätzen sozialdemokratischer Politik sollten Kursäderungen immer breit diskutiert werden. Die Notwendigkeit höherer Verteidigungsausgaben bestreitet kaum jemand, wie man quasi über Nacht von zwei über 3,5 auf 5 Prozent des BIP kam, ist allerdings noch nicht für alle nachvollziehbar.“
Das Manifest war am Dienstagabend öffentlich geworden. Eine Gruppe überwiegend linker Sozialdemokraten fordert darin unter anderem neue Gespräche mit Russland sowie einen Stopp der Stationierung neuer US-Raketen. Das Fünf-Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben wird von den Autoren als „irrational“ bezeichnet. Der Text hat harsche Reaktionen hervorgerufen, auch in der SPD selbst.
Foto: SPD-Logo (Archiv), via dts Nachrichtenagentur